Neueste Geschichte und Zeitgeschichte
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Nachruf Gerhard A. Ritter

03.08.2015

Das Historische Seminar trauert um Gerhard A. Ritter, von 1974 bis 1994 O. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der nach kurzer schwerer Krankheit am 20. Juni 2015 in Berlin verstorben ist.


Gerhard A. Ritter, geboren am 29. März 1929 in Berlin, gehörte zu den hervorragendsten deutschen Historikern seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Studium an der Universität Tübingen und der Freien Universität Berlin promovierte er 1952 in Berlin und forschte danach zwei Jahre am St Antony’s College in Oxford. Als Wissenschaftlicher Assistent kehrte er 1954 an das Friedrich-Meinecke-Institut der FU zurück, wo er 1961 für Neuere und Neueste Geschichte und Politische Wissenschaften habilitiert und im Folgejahr auf eine ordentliche Professur für Politische Wissenschaft am Otto-Suhr-Institut berufen wurde. 1965 folgte er einem Ruf für Neuere und Neueste Geschichte an die Universität Münster, 1974 an die Universität München, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 blieb.


Wie kaum ein anderer prägte Ritter die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik. Sein umfangreiches wissenschaftliches Œuvre gruppiert sich um vier große Themenfelder, die er maßgeblich erschloss: Auf seiner Dissertation aufbauend, war er führend an der Verankerung der Geschichte der deutschen Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung als neuem historiographischem Leitthema der 1960er und 1970er Jahre beteiligt, das auch durch seine Schülerinnen und Schüler einen festen Platz in der zeitgenössischen Geschichtsforschung und den Curricula fand. Früh schon beschäftigte ihn die Parlamentarismus- und Wahlforschung des 19. und 20. Jahrhunderts, vergleichend auch der britische Parlamentarismus. Die Entwicklung des modernen Sozialstaats sowie zuletzt der deutschen Wiedervereinigung war ihm sowohl ein wissenschaftliches wie auch immer ein persönliches Anliegen. Andere Gebiete wie etwa zur Historiographie- oder Wissenschaftsgeschichte ergänzen die thematischen Schwerpunkte.
Besonders wichtig war Ritter die Ausbildung und Förderung des geschichtswissenschaftlichen Nachwuchses, wie sich an der hohen Zahl und Qualität der von ihm betreuten Dissertationen und Habilitationsschriften sowie den erfolgreichen beruflichen Wegen seiner Schülerinnen und Schüler ablesen lässt. Er besaß einen sicheren Blick, Verständnis und viel Toleranz auch für Thematiken, die außerhalb seiner eigenen Forschungsfelder lagen. Die Förderung von Frauen war ihm von Anbeginn seiner akademischen Karriere eine Selbstverständlichkeit, er räumte Historikerinnen schon früh Forschungs- und Arbeitsmöglichkeiten ein. Internationalität stand für ihn außer Frage: Geleitet von dem Wunsch, eine erneuerte, demokratische deutsche Geschichtswissenschaft im Ausland bekannt zu machen und zu verankern, führten ihn zahlreiche Gastprofessuren nach St. Louis, Oxford, Berkeley und Tel Aviv. Besonders seine frühen Kontakte zu israelischen Historikern und Historikerinnen sowie seine integre Persönlichkeit gaben dem zaghaften Neubeginn wissenschaftlicher Kooperation und gegenseitigen Austauschs zwischen Wissenschaftlern beider Staaten wichtige Impulse. An Gründung und Aufbau der Deutschen Historischen Institute in London und Washington sowie des Historischen Kollegs in München war er maßgeblich beteiligt.
Auch in der deutschen Forschungspolitik und -organisation nahm Ritter über lange Jahre hinweg eine aktive und prägende Rolle ein. Um nur einige herauszugreifen: seit 1963 als Mitglied der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, im Kuratorium, Senat und Hauptausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1973-1976), als Vorsitzender des Verbands der Historiker Deutschlands (1976-1980), im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Zeitgeschichte München oder im Kuratorium der Friedrich-Ebert-Stiftung. Besonders am Herzen lag Ritter seine Tätigkeit als Planungsbeauftragter und Vorsitzender der Struktur- und Berufungskommission für den Neuaufbau der Geschichtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, den er 1991/92 verantwortlich prägte.


Gerhard A. Ritter hatte eine Vielzahl ehrenvoller Positionen inne. Er war seit 1971 Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Letzterer gehörte er seit 1980 als Ordentliches, danach als korrespondierendes Mitglied an. 1983 wurde er zum Honorary Fellow des St Antony’s College in Oxford ernannt, dem er über Jahrzehnte eng verbunden war. 1994 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Bielefeld, 1999 der Humboldt-Universität zu Berlin. 2007 wurde Gerhard A. Ritter mit dem Preis des Historischen Kollegs geehrt, der ein Gesamtwerk auszeichnet, das in vorbildlicher Form wissenschaftliches Neuland erschließt und über die Fachgrenzen hinaus wirkt.


Das Historische Seminar verliert einen international renommierten, allseits hoch geschätzten Kollegen, der mit der seltenen Kombination von sicherer Urteilskraft, Integrität und Fairness beeindruckte. Selbst ein Großer seines Fachs, konnte er sich uneigennützig über die Leistungen anderer freuen und wirkte ebenso zurückhaltend wie nachhaltig und erfolgreich. Unser Mitgefühl gilt seiner Familie.