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Regieren in der Region

Sammelband - PD Dr. Anette Schlimm

Laufende Herausgeberschaft: Regieren in der Region. Staatlichkeit und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Westfälische Forschungen 72 (2022) (in Vorbereitung)


Das „Vorrücken des Staates in die Fläche“ ist in den vergangenen Jahren als ein zentrales Merkmal des 19. Jahrhunderts herausgestellt worden. Entgegen älteren Ansätzen, die die schrittweise und erfolgreiche Etablierung des modernen (National-)Staats mit seinem fest umrissenen Territorium, einer definierten Bevölkerung sowie einem durch einen Verwaltungsapparat verbürgten Gewaltmonopol eher voraussetzten als analysierten, gehen die neueren, oftmals praxisorientierten Untersuchungen von einem stark fragmentierten und diskontinuierlichen Prozess aus, der im 19. Jahrhundert politische und soziale Strukturen, Verwaltungspraktiken und Kommunikationsprozesse maßgeblich beeinflusste – auch und gerade in der Region. Das 20. Jahrhundert erscheint hingegen weiterhin als Zeitraum, in dem der Wohl-fahrts- und Interventionsstaat voll ausgebildet war, damit aber auch seine negativen Seiten voll entfalten konnte, etwa im Zeitalter der europäischen Diktaturen.


Im geplanten Themenheft sollen die Perspektiven auf das 19. und 20. Jahrhundert für eine zeitgemäße Geschichte des Regierens in der Region zusammengeführt werden. Regieren wird hier als eine spezifische Praxis begriffen, die Herrschaftsverhältnisse permanent verändert. Mit der Verknüpfung von mikro- und makrohistorischen Perspektiven, dem Fokus auf unterschiedliche Akteurinnen und Akteure und einem breiten Begriff von Regieren sollen so neue Einsichten in das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Region gewonnen werden.


Die Perspektive auf „den Staat“ soll mit drei konzeptionell-methodischen Ansätzen fundiert werden.


1. Der Staat als Effekt von Regierungspraktiken

Folgt man Michel Foucaults Überlegungen zum modernen Regieren – er nennt das „Gouvernementalität“ –, dann wird deutlich, dass „der Staat“ dem Regieren als Praxis nicht vorausgeht, nicht seine Voraussetzung ist, sondern umgekehrt als ein Effekt von Praktiken des Regierens verstanden werden kann. „Der Staat“, wie er sich in der Neuzeit herausbildete, vor allem im 19. Jahrhundert stark expandierte und spätestens im 20. Jahrhundert als unhinterfragbare Institution existierte, erscheint in dieser Perspektive viel weniger geschlossen und homogen, sondern als ein Geflecht unterschiedlicher Akteure und Objekte, die gemeinsam als Staat agieren und als Staat adressiert wurden und werden. „Der Staat“ entstand (und entsteht) also stets aufs Neue in konkreten Praktiken und Kommunikationssituationen.


2. Koproduktion von Staatlichkeit

Gunnar-Folke Schuppert und andere Politikwissenschaftler*innen haben darauf hingewiesen, dass „der Staat“ nicht in der sozialen Isolation entsteht und agiert, sondern dass es angelagerte Akteur*innen und Institutionen gibt, die zur Konkretisierung von Staatlichkeit und vor allem zum Regieren im lokalen und regionalen Raum beitragen. Für das 19. und 20. Jahrhundert sind hier zum Beispiel die Kirchen angesprochen, die in vielen Politiksektoren (etwa in der sozialen Fürsorge, aber auch in Bereichen der Sittlichkeits- und Moralpolitik) staatliche Instanzen flankierten oder ihnen sogar vorausgingen. Auch Verbände und Vereine, politische
Parteien oder wissenschaftliche Experten wären hier zu nennen – eine Liste, die nicht vollständig ist. Mit dieser Perspektive auf die gesellschaftlichen Akteure des Regierens wird zum einen die Perspektive stark erweitert, zum anderen wird gerade das Mit- und Gegeneinander von staatlichen und nichtstaatlichen Akteur*innen beim regionalen Regieren in den Blick genommen.

3. Der prekäre Staat

Für das Verständnis des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats schlagen Sven Reichardt und Wolfgang Seibel das Stichwort der „Prekarität“ vor. Damit sollte das schon ältere Konzept der Polykratie des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats ein weiteres Mal unterstrichen werden, aber nun unter geänderten Vorzeichen. Wenn man die Zersplitterung nationalsozialistischer Staatlichkeit und die Kompetenzstreitigkeiten der verschiedenen Instanzen gerade nicht als Zeichen für die Irrationalität läse, sondern nach den Faktoren suche, die zur Radikalisierung dieser Form der Staatlichkeit und ihrer systemstabilisierenden Wirkung bis zuletzt beigetragen habe, dann lasse sich eine ganz neue Perspektive auf Staatlichkeit im NS gewinnen. Darüber hinaus, so soll in diesem Themenheft erprobt werden, trägt die Beobachtungsperspektive auf die Prekarität von Staatlichkeit gerade dazu bei, nicht vom Idealtypus einer rationalen modernen Staatlichkeit mit geordnetem Instanzenzug und klarer, nonpersonaler Struktur auszugehen, sondern Staatlichkeit generell auch in ihrer Informalität, ihrer personellen Prägung und oft auch in ihrem ad-hoc-Charakter zu begreifen. Damit werden die beiden anderen analytischen Perspektiven auf Regieren in der Region ergänzt; allen dreien gemeinsam ist, dass sie Staatlichkeit nicht voraussetzen, sondern in ihrem Regierungshandeln konkret untersuchen und dabei die Vielfalt von Regierungspraktiken sichtbar machen.

Vor diesem konzeptionellen Hintergrund wird sich der Themenband mit den unterschiedlichsten Gegenständen beschäftigen, z.B. mit bestimmten Verwaltungspraktiken im Alltag und in besonderen Umbruchsituationen (Wirtschaftskrisen, Kriege, Besatzungssituationen oder Verwaltungsreformen), die zu einer Transformation des Regierens beitrugen. Thematisch interessieren klassische Felder der Verwaltungsgeschichte ebenso wie die Geschichte von Gesundheits- und Umweltpolitiken, Migrationsprozesse, Protestgeschehen (und die Reaktionen des Staates darauf), der Wandel von Partizipationsformen sowie die Regierung von sozialen Ungleichheiten. Ein besonderer Fokus soll auf unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren liegen, was die „Ko-Produktion“ von Staatlichkeit durch das Gegeneinander- und Zusammenwirken von Verbänden und anderen gesellschaftlichen Institutionen mit staatlichen Instanzen explizit einschließt. Insbesondere sollen solche Ansätze berücksichtigt werden, die sowohl die Regierung der Stadt als auch des Landes in den Blick nehmen. Neben Fallstudien zu Westfalen sind auch Untersuchungen zu anderen europäischen Regionen sowie konzeptionelle Beiträge gefragt.