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Die Finanzverwaltung und die Verfolgung der Juden in Bayern

Ein Forschungsprojekt der LMU München und des Bayerischen Finanzministeriums unter Leitung von Professor Dr. Hans Günter Hockerts in Kooperation mit der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns

Das Forschungsprojekt umfasst drei Studien, die sich von jeweils unterschiedlichen Ansätzen dem Thema nähern. Diese Studien sind inzwischen publiziert bzw. befinden sich im Druck:

kuller_finanz

Christiane Kuller: Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Die Entziehung jüdischen Vermögens in Bayern während der NS-Zeit, München 2009
2008, € 32,00,  ISBN 978-3-406-10773-3
Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 160


drecoll_fiskus

Axel Drecoll: Der Fiskus als Verfolger. Die steuerliche Diskriminierung der Juden in Bayern, München 2008
€ 54,80, ISBN 978-3-486-58865-1
Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 78


Verhandelte Gerechtigkeit - Titel

Tobias Winstel: Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland,
München 2006, € 59,80, ISBN 3-486-57984-3
Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 72


 

Eine Zusammenfassung der Ergebnisse finden Sie in folgender  Broschuere.pdf (904 KB)

Die wirtschaftliche Entrechtung und Ausplünderung der deutschen Juden in der NS-Zeit zieht seit einigen Jahren verstärkt das Interesse der Forschung auf sich. Allerdings befassen sich die meisten Arbeiten vornehmlich mit der "Arisierung" oder Liquidation von Kaufhäusern, Einzelhandelsgeschäften und Industrieunternehmen, so daß vor allem drei zentrale Desiderate zu benennen sind:

  1. Wir sind über die Masse der jüdischen Bevölkerung, die über kein nennenswertes Betriebsvermögen verfügte, immer noch wenig informiert, dies gilt auch für die bedeutende Gruppe der freien Berufe (z.B. Ärzte und Rechtsanwälte).
  2. Der Untersuchungszeitraum der meisten Studien bleibt auf die NS-Zeit beschränkt. Beraubung und Wiedergutmachung, die im lebensgeschichtlichen Horizont der Opfer unauflöslich miteinander verschränkt sind, werden in der zeitgeschichtlichen Forschung immer noch häufig als getrennte Prozesse analysiert.
  3. Die meisten Arbeiten der 90er Jahre verfolgen nur am Rande, wie der Fiskus seit 1936 systematisch auf das Privatvermögen der Juden zugriff. Nachdem sich vor kurzem die Aktenzugangsbedingungen verbessert haben, wurden in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz Forschungsvorhaben, die ähnliche Fragen wie das hier vorzustellenden Projekt verfolgen, initiiert, von denen einige allerdings zunächst primär der Erschließung einschlägiger Aktenbestände dienen und teilweise bereits abgeschlossen sind.

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Das Projekt des Historischen Seminars der LMU München untersucht für Bayern die fiskalische Verfolgung - das umfasst

  1. steuerliche Diskriminierungen,
  2. diverse Sonderabgaben,
  3. die Sperrung, Beschlagnahmung und anschließende "Verwaltung und Verwertung" von Emigrantenvermögen sowie
  4. die "Verwaltung und Verwertung" des Eigentums, die die Deportationsopfer vor dem Abtransport noch ihr eigen nannten.

Profiteur dieses fiskalischen Raubzugs war nicht nur der Staat. Auch weite Kreise der Bevölkerung erzielten ihren Vorteil - vor allem zivile Luftkriegsopfer, die Wohnraum und meist kostenlos Möbel und Hausrat der deportierten Juden zur Verfügung gestellt bekamen. Öffentliche Versteigerungen von sogenanntem "nichtarischem Vermögen" entwickelten sich zu regelrechten Schnäppchenjagden, an denen nicht zuletzt ein ganzes Heer von Veranstaltern, Gutachtern, Spediteuren und Lagerverwaltern gut verdiente. Die Finanzverwaltung agierte also nicht als abgekapseltes System, sondern war mit der Gesellschaft vielfach verklammert.

Das Projekt setzt ein mit den Prozessen, die die Machtergreifung der Nationalsozialisten in der Finanzverwaltung sowohl im Aufgabenspektrum, als auch in der Personalstruktur und in der Handlungspraxis auslösten.

Entgegen der lakonischen Formel: "Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht" bildet der Mai 1945 für dieses Forschungsprojekt eine merkliche Zäsur, die die Verwaltungsabläufe in die zwei gegenläufigen Phasenabschnitte der Enteignung und der Rückerstattung bzw. Entschädigung teilt.

Allerdings befanden sich de facto die meisten ehemals jüdischen Vermögensgegenstände sowohl in den letzten Kriegsjahren als auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit in ein und derselben Hand - sei es die des Fiskus, sei es die eines Treuhändlers, sei es die eines "arischen" Erwerbers. Diese die politische Zäsur überwölbende verwaltungstechnische Kontinuität, die bisher im Schatten der Forschung stand, ist einer der Schwerpunkte des Projektes, der mit Quellenbeständen erschlossen werden soll, die sich noch in den Finanzbehörden befinden und für das Projekt erstmals in umfassendem Maße zugänglich gemacht werden.

Nicht nur dieser Aspekt relativiert der Zäsur von 1945. Folgt man einem biographischen Ansatz aus der Sicht der Betroffenen, so ist das Datum der fiskalischen Trennung von Eigentum und Eigentümer - bei Emigration, Ausbürgerung oder Deportation - das Schlüsselereignis einer Vielzahl von Verfolgtenschicksalen. Welche lebensgeschichtliche Bedeutung im umgekehrten Fall die erneute Zusammenführung von Eigentum und Eigentümer im Prozeß der Wiedergutmachung hatte, wird zu untersuchen sein.

Beide Punkte machen deutlich, wie unzulässig verkürzend eine Begrenzung des Themas auf die Jahre des NS-Regimes wäre - sowohl auf Seiten der Opfer, für die Ausplünderung und Wiedergutmachung zwei Seiten einer Medaille und Teil eines biographischen Kontinuums waren, als auch aus der Sicht der Wiedergutmachungsinstanzen der Finanzverwaltung, wo die Entzieher von einst häufig nach Kriegsende als Fachexperten für die Rückerstattung zuständig waren. Der Untersuchungszeitraum endet daher mit den Ausläufern der Wiedergutmachung in den sechziger und frühen siebziger Jahren.

Die überwältigende Mehrzahl der Quellen für das Projekt sind die rd. 440.000 Fallakten aus den Einziehungs- bzw. Wiedergutmachungsbehörden, die in zweifacher Hinsicht erst zum sprechen gebracht werden müssen: Einmal lassen sie als Ergebnisse bürokratischer Verwaltungsakte kaum Rückschlüsse auf individuelle Verhaltensformen und Motive der Beamten und Angestellten zu. Statistische Auswertungen können helfen, Handlungsspielräume und abweichendes Verhalten zu identifizieren. Ergänzend ist man aber angewiesen auf private Aufzeichnungen (z.B. Memoiren, Briefe), auf Spruchkammerakten, aber auch auf Aussagen und persönliche Zeugnisse der Opfer, die sich vermutlich in Entschädigungsakten finden. Außerdem geben die Quellen die Verfolgung nur im Zerrspiegel bürokratischer, rechtsförmiger Prozesse wider. Das gilt sowohl für die Verwaltungsakten aus der NS-Zeit als auch für die Dokumente der Rückerstattung und Entschädigung nach Kriegsende. Hier findet Niederschlag, was verwaltungsrechtlich reguliert oder zur Wiedergutmachung einklagbar war. Diese Perspektive erlaubt einmal nur einen sehr beschränkten Einblick in die Erfahrungswelt der Opfer, es müssen daher ergänzend auch andere Quellen, z.B. Selbstzeugnisse der Betroffenen, herangezogen werden. Außerdem bleibt auch im Hinblick auf das Verwaltungshandeln mancher gesetzlich unregulierte Ermessensspielraum unsichtbar.

Im Umfeld des Forschungsprojektes entstanden mehrere Magisterarbeiten zu Fallbeispielen  (u.a. Kunsthandelshaus Bernheimer, Kaufhaus Uhlfelder, Möbelhaus Ballin, Löwenbräu, Ärzte in Bayern).

* Es hat sich bisher noch keine einheitliche Terminologie für unseren Untersuchungsgegenstand durchgesetzt. Der Begriff "Konfiskation" (Frank Bajohr) erfaßt wohl nicht die gesamte Spannbreite der Verfolgungsmaßnahmen, zu denen u.a. auch diskriminierende Steuerregelungen und Sonderabgaben gehören. Die Bezeichnung "fiskalische Arisierung" weitet dagegen den Begriff der "Arisierung" über Gebühr aus. Vorerst halten wir uns daher an die Bezeichnung "fiskalische Verfolgung".

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Literaturhinweise:

Herausgeberschaft:

  • Kuller, Christiane unter Mitarbeit von Axel Drecoll und Tobias Winstel (Hrsg.): Historisches Online-Journal zeitenblicke, Themenausgabe "Raub und Wiedergutmachung", 3 (2004), Nr. 2

Aufsätze:

  • Hockerts, Hans Günter: "Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945-2000, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), S. 167-214.
  • Drecoll, Axel: Finanzverwaltung und Judenfrage. Die Rolle des Fiskus bei der Entziehung, Verwaltung und Verwertung jüdischen Vermögens, dargestellt am Beispiel jüdischer Ärzte Münchens, in: Eli Bar-Chen/Antony Kauders (Hrsg.): Jüdische Geschichte. Alte Herausforderungen - neue Ansätze, München 2003, S. 143-166.
  • Winstel, Tobias: Über die Bedeutung der Wiedergutmachung im Leben der jüdischen NS-Verfolgten. Erfahrungsgeschichtliche Annäherungen, in: Hans Günter Hockerts/ Christiane Kuller (Hg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, Göttingen 2003, S. 199-228.
  • Drecoll, Axel: Die "Entjudung" der Münchner Ärzteschaft 1933-1941, in: Angelika Baumann/Andreas Heusler (Hrsg.): München "arisiert". Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004, 70-86.
  • Kuller, Christiane: Finanzverwaltung und "Arisierung" in München, in: Angelika Baumann/Andreas Heusler (Hrsg.): München "arisiert". Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004, 176-197.
  • Kuller, Christiane: "Erster Grundsatz: Horten für die Reichsfinanzverwaltung". Die Verwertung des Eigentums der deportierten Nürnberger Juden, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 20 (2004), S. 160-179.
  • Kuller, Christiane: Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Antisemitische Fiskalpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 2
  • Winstel, Tobias: Verordnete "Ehrenpflicht" - Wiedergutmachung für jüdische NS-Opfer, in: Angelika Baumann/ Andreas Heusler (Hg.), München "arisiert". Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004, S. 218-236.
  • Winstel, Tobias: "Ich habe gesehen, dass es auch ein 'anderes Deutschland' gibt." Der NS-Verfolgte und spätere Wiedergutmachungs-Anwalt Dr. Edward Kossoy im Gespräch mit Tobias Winstel über seine Beschäftigung mit Rückerstattung und Entschädigung, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 2
  • Winstel, Tobias: "Healed Biographies"? Jewish Remigration and Indemnification for National Socialist Injustice, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute, London (im Druck).