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Nomadismus als Reflexionsfigur der Moderne

Im Zentrum des Projektes stehen Selbstverständigungsprozesse moderner europäischer Gesellschaften über als adäquat erachtete Formen sozialer Kohäsion. Ausgehend von der heuristischen Annahme, dass Moderne sich selbst über ein territorial gebundenes Ordnungsideal definierten und der Handlungsmaxime der Rationalität zu folgen suchten, wird dieser Nomos in Auseinandersetzung mit einem paradigmatischen Anderen kritisch erörtert: dem Nomadismus. Dieser wird als Reflexionsfigur begriffen, die zur Distinktion von als amodern erachteten Lebensformen adressiert wurde und somit ex negativo zur Schärfung wie auch Problematisierung anerkannter bzw. inkorporierter Formen des menschlichen Seins als eines Miteinander-Seins beitrug. Ungeachtet der Tatsache, dass selbstverständlich auch zum Europa der Moderne nomadisch Lebende gehör(t)en, wurden diese zeitlich im Vormodernen und räumlich außerhalb der europäisch-transatlantischen Welt verortet. Diese Externalisierung bot dabei in zweierlei Hinsicht die Möglichkeit der kritischen Reflexion: einmal durch pathologisierende Distanzierung und einmal durch eher exotisierend-emphatische Bezugnahme. Das Projekt untersucht diese doppelte Referenz in populären und wissenschaftlichen Diskursen vom ausgehenden 19. bis zum späten 20. Jahrhundert und zielt darauf, herauszuarbeiten, wann etablierte Modi sozialer Kohäsion weshalb problematisiert und einer Neukonfiguration unterzogen wurden und inwiefern in diesem Rahmen der Figur des Nomadischen eine herausgehobene Bedeutung zugesprochen wurde. So angelegt, leistet das Projekt nicht nur einen Beitrag zu aktuell virulenten Themen menschlicher Mobilität und deren als notwendig erachteter Regulierung. Vielmehr verfolgt es ein zweifaches, ein thematisches und ein methodisch-konzeptionelles, Ziel: Durch die Verknüpfung des Abstraktums Moderne mit dem basalen Modus des menschlichen Seins als Sesshaftsein gilt es zunächst, die Bedingungen sozialer Kohäsion kritisch zu befragen und Nomadismus-Bezüge als Hinweis auf deren erodierende Plausibilität zu lesen. Auf übergeordneter Ebene geht es aber ebenso darum, die ungebrochene Präsenz als modern zu verstehender Weltzugänge und -deutungen zu problematisieren, die sich nicht zuletzt in der Geschichtswissenschaft als einer an die Vorstellung homogener Historizität gebundenen und auf lineare Darstellung fokussierten Disziplin zeigen.